Die aktuelle Ausbildungssituation in Deutschland stellt viele Unternehmen vor große Herausforderungen. Laut Bundesagentur für Arbeit sind zahlreiche Ausbildungsstellen noch immer unbesetzt. Mit rund 509.000 freien Ausbildungsplätzen im Juni und lediglich 392.000 suchenden BewerberInnen zeigt sich eine deutliche Diskrepanz1 (Stand: 01.08.23). Besonders betroffen sind Branchen wie Handel und insbesondere der Bau. Angesichts dieser Situation stellt sich die Frage, wie Bauunternehmen geeignete Lehrlinge gewinnen können. Recruiting-Experte Witali Kriwolutski geht auf wichtige Aspekte ein und gibt wertvolle Tipps.
Welche spezifischen Herausforderungen gibt es im Baubetrieb bei der Gewinnung von Auszubildenden?
Witali Kriwolutski: „Baubetriebe haben die gleichen Schwierigkeiten, neue Azubis zu gewinnen, wie Unternehmen in anderen Branchen auch. Meist sind es bestimmte Klischees oder auch Vorurteile, die eine Vorstellung der Berufe prägen. Manche Berufe wirken auf Auszubildende vermeintlich unattraktiv, da sie etwa körperliche Arbeit bei jeder Wetterlage bedeuten. Die Herausforderung ist, bereits bestehende Vorstellungen zu einem bestimmten Beruf aufzubrechen. Dieses Image kann geändert werden, indem auf Karrierewege sowie Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten hingewiesen wird: Neben gewerblichen Ausbildungen bietet die Baubranche auch kaufmännische oder technische Berufsausbildungen an. Durch die Bindung an Tarifverträge und Weiterbildungsmöglichkeiten ohne Hochschulreife bietet das Baugewerbe reichlich Chancen, an ein hohes Einkommen zu gelangen. Das ist vielen nur nicht bewusst."
Welche Strategien haben sich in der Vergangenheit als besonders effektiv erwiesen, um Auszubildende noch für das bereits laufende Ausbildungsjahr erfolgreich anzuwerben?
Witali Kriwolutski: „Trotz bereits begonnenem Ausbildungsjahr bieten regionale Jobbörsen und Recruiting-Messen sowie entsprechende Events der Handwerkskammern oder Industrie- und Handelskammern gute Möglichkeiten, Auszubildende zu gewinnen. Diese fördern eine Begegnung zwischen Arbeitgebern und Bewerbern.
Neben dem Aufzeigen von Karrierechancen hilft das Angebot eines dualen Studiums effektiv Azubis anzuwerben. Die Kombination von praktischer und geistiger Arbeit ist ein attraktiver Faktor, um neue MitarbeiterInnen anzuziehen. Weiterhin sollte online betont werden, dass auch nach Ausbildungsstart noch Plätze frei sind."
Wie können Baubetriebe ihre Attraktivität für potenzielle Auszubildende steigern?
Witali Kriwolutski: „Auszubildende müssen oft selbst nach den Details eines Ausbildungsberufes suchen, da viele Unternehmenskarriereseiten nicht explizit an diesen Informationsbedarf angepasst sind. Eine spezielle Karriereseite für Azubis, die alle wissenswerten Informationen bündelt, erhöht die Attraktivität und erleichtert die Bewerbung. Wichtige Aspekte, die über die Karriereseite kommuniziert werden sollten, um die Attraktivität gegenüber potenziellen Nachwuchstalenten zu steigern, sind Weiterbildungsmöglichkeiten, Karrierechancen und Bezahlung. Ebenso hilft es, aktuelle oder ehemalige Auszubildende als Sprachrohr zu nutzen, um einen Einblick in das Unternehmen zu geben. Dedizierte Vorteile für Lehrlinge, wie Prüfungsvorbereitungshilfen, Azubiprojekte oder Fahrkarten-Benefits, steigern ebenso die Attraktivität. Kooperationen mit Schulen und „Tage der offenen Tür“ bieten zukünftigen Nachwuchstalenten praktische Einblicke. In den nächsten Jahren wird der Wettbewerb um Auszubildende weiter zunehmen, weshalb Investitionen in diesem Bereich schon jetzt essenziell sind."
Welche Rolle spielt Mentoring im Baubetrieb bei der Integration von Auszubildenden?
Witali Kriwolutski: „Mentoring hat einen hohen Stellenwert bei der Integration und Bindung von Nachwuchskräften. Gerade auf Baustellen, die für viele Ausbildungsberufe im Baubetrieb der Arbeitsplatz sind, schafft eine begleitende Person Vertrauen und erleichtert die Lernprozesse. Ein unterstützender Ansprechpartner in jedem Arbeitsbereich eines Baubetriebs vermittelt den Azubis mehr Sicherheit und fördert ihre Eigenständigkeit. Dies steigert die Leistungsbereitschaft und unterstützt die Integration der neuen MitarbeiterInnen. Es ist daher entscheidend, das Mentoring nach außen zu kommunizieren, um potenzielle Lehrlinge vom Unternehmen zu überzeugen."
Welche Maßnahmen können Baubetriebe unternehmen, um noch potenzielle Auszubildende erreichen zu können?
Witali Kriwolutski: „Die sozialen Medien sind nicht die erste Anlaufstelle für Menschen, die sich um eine Ausbildung bemühen. Azubis suchen aktiv über Google nach Ausbildungsplätzen, nur sind Firmen dort oft nicht so aktiv. Das bedeutet, eine sinnvolle Investition, um von potenziellen Auszubildenden gefunden zu werden, wäre in Google-Werbung zu investieren. Dennoch ist ein Auftritt in den sozialen Medien von Vorteil, damit junge Talente einen Einblick in das Unternehmen erhalten."
Welche besonderen Anreize oder Vorteile können Baubetriebe bieten, um Azubis zu gewinnen?
Witali Kriwolutski: „Neben der Ausbildungsvergütung ist die Intensität, mit der Bauunternehmen die Auszubildenden in schulischen Angelegenheiten unterstützen, eine vielversprechende Möglichkeit, gegenüber anderen Firmen hervorzustechen. Übungsbaustellen können dabei helfen, Kenntnisse zu verfestigen oder die praktischen Fähigkeiten auszubauen. Offenheit gegenüber alternativen Ausbildungsmethoden ist ebenso ein Alleinstellungsmerkmal. Teilzeitausbildungen können ein Anreiz sein, sich für einen bestimmten Betrieb zu entscheiden."
Wie wichtig ist die Unternehmenskultur und das Arbeitsumfeld im Baubetrieb, um Auszubildende zu halten und ihre Zufriedenheit zu gewährleisten?
Witali Kriwolutski: „Wie die Mitarbeitenden im Unternehmen miteinander umgehen, macht den Unterschied zwischen einem guten und einem weniger guten Arbeitsklima aus. Der größte Anreiz für Auszubildende ist, wenn ein Unternehmen erfolgreich nach außen kommuniziert, dass den Azubis auf Augenhöhe begegnet wird und sie als vollwertige Teammitglieder angesehen werden. Eine offene Fehlerkultur zu leben bedeutet, Talente konstruktiv zu fördern. Respekt gegenüber den neuen MitarbeiterInnen und deren Ansichten sowie Ideen verstärkt die Integration in die Unternehmensprozesse."
Wie können Baubetriebe sicherstellen, dass ihre Ausbildungsprogramme den Bedürfnissen und Erwartungen der heutigen Generation von Auszubildenden entsprechen?
Witali Kriwolutski: „Ein Baubetrieb darf sich nicht davor scheuen, den Bewerbungsprozess zu vereinfachen. Das Bewerbungsaufkommen steigt, wenn die Hürde für Personen, mit einer Firma in Kontakt zu treten, so gering wie möglich ist. Zum Beispiel könnte das erste Gespräch als Videointerview stattfinden, während dem Auszubildenden beim zweiten Gespräch vor Ort das Arbeitsumfeld gezeigt wird. Damit das Ausbildungsprogramm den Bedürfnissen und Erwartungen der neuen MitarbeiterInnen entspricht, lohnt es sich, die Auszubildenden in die Gestaltung der Ausbildung einzubeziehen. Durch deren regelmäßiges Feedback über die Ausbildung und mögliche Interessenbereiche kann die Ausbildung weitestgehend an die Wünsche der Azubis angepasst werden. Diese Form der Wertschätzung steigert das Engagement."
Fazit
Auf den ersten Blick scheint das Gewinnen von Azubis, besonders nach dem offiziellen Start des Ausbildungsjahres, eine große Herausforderung zu sein. Doch mit den richtigen Strategien ist diese Herausforderung auch für kleine und mittelständische Unternehmen zu bewältigen. Von der Vereinfachung des Bewerbungsprozesses über die Schaffung spezieller Karriereseiten für Auszubildende bis hin zur Implementierung von Mentoring-Programmen gibt es zahlreiche Möglichkeiten, die Attraktivität von Baubetrieben für potenzielle Nachwuchstalente zu steigern. Die Unternehmenskultur und das Arbeitsumfeld spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle bei der Bindung und Zufriedenheit von Auszubildenden.
Im BRZ-Ratgeber erhalten Sie weitere Informationen zum Thema „Azubis in der Baubranche anwerben und halten".
Weitere Tipps, um selbst noch einen Ausbildungsplatz zu finden, gibt die Bundesagentur für Arbeit
1 Quelle: Pressebericht „Lage auf dem Ausbildungsmarkt für Bewerbende weiter gut", Bundesagentur für Arbeit
Tags
Baubranche, Baugewerbe, Fachkräftegewinnung, Fachkräftemangel, Ausbildung, Erfolg, Bau, Baubetrieb, Entwicklung, Auszubildende, Azubi, Unternehmenskultur, Berufsbildung, Personal, Bewerbung, Bewerbungsprozess, Ausbildungsstart, Berufsausbildung, MitarbeiterbindungSeptember 19, 2023
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